A.C. Segelke: Deutsche und britische Propaganda in Dänemark während des Ersten Weltkrieges

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Titel
Deutsche und britische Propaganda in Dänemark während des Ersten Weltkrieges.


Autor(en)
Segelke, Arne Christian
Anzahl Seiten
276 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Caroline Elisabeth Weber, Centre for Border Region Studies, University of Southern Denmark

Propaganda ist zurück! Nicht zuletzt durch den russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 wird in internationalen Medien vermehrt auf die Narrative und Darstellungsweisen von Kriegshandlungen und politischen Entscheidungen geblickt. Propaganda begegnet uns dabei längst nicht mehr nur in den 20-Uhr-Nachrichten oder der Tageszeitung, sondern hat die (sozialen) Medien für alle Alters- und Interessengruppen fest im Griff. Ob Tagesschau, Twitter oder TikTok, Propaganda hat Hochkonjunktur – und zumindest in demokratischen Gesellschaften mit freier Presse werden Herkunft und Belastbarkeit der Quellen offen diskutiert und gegensätzliche Positionen miteinander verglichen.

Aktuelle Geschehnisse rufen oft den Wunsch nach historisch fundierten Erklärungen, Vergleichen und Einordnungen hervor. Vor diesem Hintergrund nimmt sich diese Besprechung der bereits 2019 erschienenen und zuvor 2016 als Dissertation am Nordeuropa-Institut der Berliner Humboldt Universität eingereichten Monografie von Arne Christian Segelke „Deutsche und britische Propaganda in Dänemark während des Ersten Weltkrieges“ an. Was die insgesamt zehn Kapitel und das umfangreiche Fazit mit Kriegen des Jahres 2022 verbindet und sie besonders lesenswürdig macht, sind die historischen und aktuellen politischen wie gesellschaftlichen Beziehungen, die Frage von Neutralität in Kriegszeiten, und die Narrative über Krieg und Kriegserleben. Segelke verfolgt die These, dass „der Erste Weltkrieg als historisches wie mediales Ereignis einen größeren Einfluss auf die Geschicke der skandinavischen Länder [hatte], als ihm deren Geschichtsschreibungen gemeinhin zukommen lassen.“ Der Krieg wurde und wird seiner Meinung nach aufgrund der Neutralität Dänemarks, Norwegens und Schwedens „als ein Ereignis der gemeinsamen europäischen, nicht aber der nationalen dänischen, schwedischen oder norwegischen Geschichte gesehen.“ Zudem habe die Dominanz der Beschäftigung mit dem Zweiten Weltkrieg die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg überdeckt, die „Einflüsse des Ersten Weltkrieges auf Dänemark und die anderen skandinavischen Länder […] hingegen [seien] weiterhin nur wenig erforscht“ (alle S. 16).

Der Autor legt nachvollziehbar dar, dass sich ein Blick in die dänische Hauptstadtpresse lohnt, schließlich sei Kopenhagen während des Krieges der „Kommunikationsknotenpunkt Nordeuropas“ gewesen: Durch die dänische Neutralität seien deutsche wie britische Propagandisten sehr an einem Zugriff auf die dortige Presse interessiert gewesen; Dänemark wiederum konnte über die wechselseitige Berichterstattung „eine möglichst objektive Einschätzung der Kriegslage“ erhalten. Segelke betont, dass die dänische Neutralität „keinen statischen Zustand“ darstellte, sondern „vielmehr durch ein ständiges Aushandeln der vor allem von Deutschland und Großbritannien gestellten Forderungen und Ansprüche geprägt“ war. Die Ostsee wurde dadurch als „Kampfraum“ neutralisiert (alle S. 17). Mit Bezug auf die genannten Akteure hätte sich ein Hinweis auf die jeweiligen Kriegsgeschichten angeboten, schließlich hatte England in den Napoleonischen Kriegen Kopenhagen bombardiert und die dänische Flotte vernichtet, und gegen den Deutschen Bund bzw. Preußen und Österreich hatte das dänische Königreich 1864 einen Krieg mit nachhaltigen Folgen verloren. Besonders vor dem Hintergrund von Unvoreingenommenheit, Neutralität und Propaganda sind derartige Exkurse mitunter sinnvoll, zumal, wenn mit Blick auf den Ersten und Zweiten Weltkrieg auf das kulturelle Gedächtnis nach Aleida Assmann angespielt wird. Im dänischen Fall kann der Krieg von 1864 als aktiv im kulturellen Gedächtnis verankert bezeichnet werden – insbesondere zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Auch finden sich in Segelkes Arbeit keine Hinweise auf das fachwissenschaftliche Echo mit Blick auf die 100. Jahrestage des Ersten Weltkrieges von 2014 bis 2018. Ob der Erste Weltkrieg für Dänemark ein „Randphänomen der eigenen Landesgeschichte“ (S. 20) darstellt, kann man diskutieren, schließlich bestimmte der den Krieg formal beendende Friedensvertrag von Versailles zwei Volksabstimmungen im seit 1864/67 deutschen Landesteil Schleswig, dessen nördlicher Teil im Juni 1920 an Dänemark abgetreten wurde. Kein anderes Ereignis der dänischen Geschichte wurde bereits zeitgenössisch so stark rezipiert und so häufig in Jubiläen inszeniert. Zudem ging die sogenannte Wiedervereinigung (Genforeningen) mit einer in der Region bisher ungekannten medialen Propaganda, hauptsächlich in Form bunter Plakate und Flugblättern, aber auch einer intensiven Stimmungsmache in der regionalen und nationalen Presse einher.1 Wenn der Autor konstatiert, dass sich die „umfangreichsten Gesamtdarstellungen zu Dänemark in der Zeit des Ersten Weltkrieges […] weiterhin in Überblicksdarstellungen“ (S. 21) finden, dann entschuldigt diese Wahrnehmung nicht, dass das Literaturverzeichnis lediglich eine nach 2010 gedruckte Publikation beinhaltet.2 Vergeblich sucht man auch eine Erwähnung der Schlacht am Skagerrak, die immerhin als größte Seeschlacht der Weltgeschichte bezeichnet wird: Am 1. Juni 2016, genau 100 Jahre nach der Schlacht, wurde an der dänischen Westküste – in der Projektbeschreibung explizit als neutraler Boden bezeichnet – eine Erinnerungslandschaft eingeweiht, die jedes der 25 gesunkenen Schiffe, die mit ihnen gesunkene Besatzung sowie die an den Folgen der Schlacht Verstorbenen durch Stelen abbildet, ohne zwischen britischen und deutschen Soldaten zu unterscheiden.3 Auch wenn weder die Volksabstimmungen, die Teilung Schleswigs oder die Skagerrakschlacht im Zentrum der Dissertation standen, wäre es für die Druckfassung sehr ergiebig gewesen, diese Ereignisse und ihre jeweilige Rezeption in Deutschland, Großbritannien und Dänemark einzuarbeiten.

Arne Segelkes umfangreiche Analyse von Presse-, Literatur- und Bildpropaganda ist hingegen handfest und überzeugend. Sein Quellenmaterial aus Archiven in Kopenhagen, Berlin und London sowie seine detaillierte Auswertung zeitgenössischer Literatur warten mit grundlegenden Ergebnissen auf, die auch heute zum Verständnis von Kriegspropaganda beitragen können. Pressearbeit wurde während des Ersten Weltkrieges als „wichtigste[r] Zweig der Propaganda“ (S. 142) verstanden und beide Kriegsparteien investierten viel in die Berichterstattung, aber auch die Beeinflussung dänischer Medienakteure. Vor dem Hintergrund allgemeiner gesellschaftlicher Entwicklungen betont Segelke, dass die „Verdichtung und Ausdifferenzierung nationaler Kommunikationsräume“ eng verbunden war mit „umfassenderen Nationalisierungsprozessen“ (S. 93). Mit dem Entstehen von Nachrichtenagenturen zur Mitte des 19. Jahrhunderts konnten Meldungen schnell und parallel in verschiedene Länder verkauft werden, und die regionale Presse war nicht länger auf eigene Korrespondenten angewiesen. Auch wenn bei Kriegsausbruch die „professionalisierte Propaganda noch in ihren Kinderschuhen“ (S. 109) steckte, macht der Autor darauf aufmerksam, dass die skandinavische bzw. dänische Presselandschaft Quellen von allen kriegsführenden Parteien bezog und daher die einzelnen Berichte vergleichen konnte. Neben einer sich immer weiter ausgestalteten Politisierung und Spezialisierung der einzelnen Tageszeitungen „bewirkte der Krieg auch in Dänemark einen Modernisierungsschub im Bereich der Medien“ (S. 114). So fiel es britischen Agenturen deutlich leichter als deutschen, mit den Veränderungen der internationalen Presselandschaft mitzugehen (S. 114), allerdings hatten auf lange Sicht beide Seiten Schwierigkeiten, die Interessen dänischer Medienakteure zu berücksichtigen.

Neben der Presse spielte die Literatur-, und hier konkret die Broschüren- und Buchpropaganda, eine wichtige Rolle. Wie viel Material von den Kriegsparteien tatsächlich produziert wurde, lässt sich nicht eindeutig feststellen. Segelke betont, dass „alle Propagandastellen ihre Erfolge gerne überzeichneten“ und nur ein „Bruchteil“ der insgesamt an der Front verteilten oder abgeworfenen Flugblätter Skandinavien erreichte (S. 143). Verschiedene Medien wurden in Deutschland und Großbritannien häufig sehr anders wahrgenommen als von skandinavischen Rezipienten: Während Flugblätter von letzteren oft als „lästiges Übel“ empfunden wurden, stellten ausformulierte Texte und besonders Bücher von Gelehrten und Politikern ein „‚respektables‘ Medium dar, das am ehesten zu einem vernünftigen Diskurs über den Krieg beitragen konnte“ (S. 178).

Einen letzten Schwerpunkt bildet die Bild-, Film- und Kulturpropaganda, zu der die Monografie sinnvolle allgemeine Hinweise liefert, dabei aber teilweise auf stark veraltete Literatur rekurriert. Segelke konstatiert die Schwierigkeiten von Kriegsfotografen, eine Balance zwischen dem sich verändernden Kriegsverlauf und den Erwartungen des Publikums zu finden und stets „überzeugende Motive zur visuellen Umsetzung ihrer propagandistischen Aussagen“ (S. 181) zu liefern. Aufschlussreich ist Kapitel 8.4 über den dänischen Blick auf den Krieg anhand der Bildberichterstattung in der Tageszeitung „Politiken“ (S. 202–205, Tabelle S. 257), die aus Kopenhagener Perspektive den Alltag in der Hauptstadt in Bezug zur Situation in den kriegsführenden Ländern setze, was bei vielen Leser:innen zu einer positiven Auffassung der dänischen Politik und Lebensweise führte. Ebenso lehrreich sind Segelkes Ausführungen zur Filmpropaganda, die nach Kriegsbeginn erst langsam Fahrt aufnahm, dann aber zeitweise mit enormem Aufwand professionell betrieben und vom internationalen Publikum auch angenommen wurde. Während im restlichen Europa der Wunsch nach Unterhaltungsfilmen stieg, ging die in ihrem Alltag kaum durch den Krieg beeinträchtigte dänische Bevölkerung auch weiterhin für Kriegsfilme ins Kino. Allerdings litt die dänische Filmindustrie stark an dem in Deutschland einsetzenden kriegsbedingten Ressourcenmangel. Infolge des Krieges gelang es deshalb amerikanischen Studios vermehrt, ihre Filme an dänische Kinos zu verleihen, was den „Aufstieg Hollywoods“ (S. 236) beförderte.

Vor dem Hintergrund aktueller Kriege in Europa, der Erweiterungsdiskussionen der Europäischen Union und der jüngsten Entwicklungen zum NATO-Beitritt der bisher neutralen Staaten Schweden und Finnland ist die Monografie von Arne Segelke in jedem Fall lesenswert – allerdings bleibt sie sehr in ihrem historischen Thema verortet und liefert wenig bis keinen Kontext zu den kriegsbedingten Beziehungen der drei behandelten Staaten und ihrer nachfolgenden Kriegsrezeption im 21. Jahrhundert. Auch wäre zumindest eine englische Zusammenfassung wünschenswert gewesen, um den Band auch außerhalb Deutschlands zugänglich zu machen.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu exemplarisch Nina Jebsen, Als die Menschen gefragt wurden. Eine Propagandaanalyse zu Volksabstimmungen in Europa nach dem Ersten Weltkrieg (Internationale Hochschulschriften 610 / Skrifter fra Museum Sønderjylland 9), Münster 2015.
2 Siehe etwa Claus Bundgård Christensen / Martin Bo Nørregård / Niels Bo Poulsen, Fra verdenskrig til borgerkrig. Østfronten 1914–1924 set med danske øjne, Kopenhagen 2018; Bjarne S. Bendtsen, Mellem fronterne. Første Verdenskrigs aftryk i dansk litteratur og kultur 1914–1939, Aarhus 2018; Hans Wolf, Sønderjyder på Østfronten i 1. Verdenskrig, Odense 2017.
3 Website zur Gedenkstätte der Schlacht am Skagerrak: http://www.jutlandbattlememorial.com/deutch.html (30.06.2022).

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